Was bei uns Datenschützer, Verbraucherzentralen und das Bundesverfassungsgericht auf den Plan rufen würde, stößt in China auf breite Zustimmung: Die chinesische Regierung und private Konzerne bewerten das Sozialverhalten der Bevölkerung mit einem Punktesystem. Je mehr Punkte, desto vertrauenswürdiger; so das System. Es ist höchste Zeit für einen Blick über den nationalen Tellerrand.
Ausgangslage
Die Regierung der Volksrepublik China setzte sich ein klares Ziel: Ab 2020 bewertet ein zentrales, verpflichtendes und flächendeckendes Sozialkreditsystem das Verhalten aller chinesischen Bürger und Unternehmen. Dahinter steht ein pädagogischer Gedanke: Die gesamte chinesische Gesellschaft soll zu „aufrichtigem“ Verhalten im Sinne der Kommunistischen Partei erzogen werden. Hochoffiziell spricht die Regierung Chinas vom Ziel, mehr „Vertrauenswürdigkeit“ durch die soziale Bewertung zu erreichen/erreichen zu wollen.
Aktuell laufen in 40 Städten entsprechende Bewertungssysteme im Pilotbetrieb. In der Praxis gibt es Pluspunkte für eine schnelle Bezahlung beim Online-Shopping oder wer das Fahrrad benutzt anstatt mit dem Auto zu fahren. Minuspunkte erhält, wer sein smartes Leihfahrrad nicht wieder ordnungsgemäß anschließt/zurückgibt oder wer alleine in einer großen Wohnung lebt. Die Bewertung des Sozialverhaltens findet unter moralischen Aspekten statt, deren Standards durch die chinesische Regierung definiert werden. Je mehr Punkte, desto vertrauenswürdiger ist der einzelne Bürger – und desto mehr Vorteile bekommt er (dafür). Besonders „aufrichtige“ Bürger oder Unternehmen werden auf sogenannten roten Listen öffentlich hervorgehoben und gewürdigt. Rot steht für das Gute/Positive. Das Verhalten besonders „unaufrichtiger“ Bürger oder Unternehmen wird dagegen auf sogenannten schwarzen Listen publik gemacht. Schwarz symbolisiert das Schlechte/Negative.
Nach der Studie der Freien Universität Berlin bestätigten 80 % der insgesamt 2200 befragten chinesischen Bürger bereits freiwillig an einem kommerziellen (Pilot-)Sozialkreditsystem teilzunehmen. Besonders verwunderlich ist diese hohe Akzeptanz, da ein negativer Punktestand im Sozialkreditsystem weitreichende Folgen haben kann: Er erschwert oder erleichtert den Zugang zu einem Kredit, er entscheidet, ob man im Hotel beim Check-In eine Kaution hinterlegen muss oder nicht. Demgegenüber ist ein hoher Punktestand beim Online-Dating hilfreich. Ein niedriger hingegen kann die Chancen auf einen Job schmälern.
Erklärungsversuche – warum ist die Zustimmung so hoch?
Die Zustimmung ist dort am Größten – so der Grundsatz – wo die Menschen am Meisten von der Bewertung profitieren. Dem ist auch hier so. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass das System bei 82 % der älteren, männlichen Chinesen, die in Städten mit hohem Bildungsstatus und gutem Einkommen leben, besonders gut ankommt. In ländlichen Gebieten lag sie bei nur 68 % – vermutlich, da sich auf dem Land nicht alle Vorteile, die sich durch einem hohen positiven Punktestand ausspielen lassen (schnellere Visavergabe oder Express-Schlangen am Flughafen), greif- und verfügbar sind.
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Befragten das Sozialkreditsystem weniger als Überwachungsinstrument (wie wohl bei uns), sondern vielmehr als Instrument zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Schließung institutioneller und regulatorischer Lücken ansehen. In diesem Zusammenhang verweist die Studie auch auf das vergleichsweise unterentwickelte chinesische Rechtssystem. Dieses betrifft den Bankensektor zu gleichen Teilen. So gibt es zum Beispiel kein einheitliches Kreditauskunftssystem. Ferner ist die Durchsetzung vieler Gesetze mangelhaft.
Dies begründet aus Sicht der Studienautorin die hohen Zustimmungsraten für die Einführung eines solchen Systems: „In einem Land, in dem die Verbraucher über giftige Babymilch oder kontaminierte Erdbeeren besorgt sein müssen oder Internetbetrüger Hunderttausende von Menschen schikanieren, wird das Sozialkreditsystem als Plattform für verlässliche Information wahrgenommen. Die in westlichen Ländern geübte Kritik an der Sammlung persönlicher Daten rückt damit in China in den Hintergrund.“
Fazit
Es ist erschreckend und logisch zugleich: Das System wirkt. Bereits heute haben die Sozialkreditsysteme Einfluss auf das Verhalten der chinesischen Bürger. Von den Befragten gaben 72 % demnach an, sich bei ihrer Kaufentscheidung davon beeinflussen zu lassen, wie die Sozialkredit-Bewertung des Unternehmens ist, das die Produkte oder Services anbietet. 18 % haben – so die Umfrageergebnisse – ihr Posting-Verhalten in sozialen Netzwerken verändert und Kontakte entfernt, weil der Umgang mit diesen Kontakten potenziell negativen Einfluss auf die eigene Bewertung hätte haben können.
Während wir uns über die Chinesen wahrscheinlich verwundert die Augen reiben, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass auch wir uns bei (finanziellen) Entscheidungen von Bewertungen (ver-)leiten lassen. Hierzulande spielt insbesondere bei der Kredit- und Wohnungsvergabe die SCHUFA AG eine zentrale (und nicht unzweifelhafte) Rolle. Das Punktesystem der Sozialkredit-Bewertung teilt mit der Schufa das gleiche Schicksal: Es ist intransparent. Mehr als 30 % der Studienteilnehmer gaben an, gar nicht zu wissen, wie der Punktestand errechnet wird. Die Schufa nennt die Berechnung des Scorewertes „Betriebsgeheimnis“ und muss den Berechnungsalgorithmus auch nicht offenbaren. Darüber entschied unlängst das höchste deutsche Zivilgericht (Bundesgerichtshof, Urteil v. 28.01.2014 – VI ZR 156/13).
Ob auch ein Chinese oder eine Chinesin bis vor dem höchsten chinesischen Gericht auf (mehr) Transparenz klagt?
Wie sehen Sie das Punktesystem der Sozialkredit-Bewertung?
Könnten Sie sich ein solches System auch in Deutschland vorstellen?
Ich bin auf Ihre Kommentare gespannt!
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Titelbild (CCO Public Domain)
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